80 Jahre Stalingrad
Doku-Webserie mit Sicht von unten
Die jüngsten Berichte von den erbitterten Auseinandersetzungen um Bachmut erinnern an jene berüchtigte Schlacht, deren Ende sich Anfang Februar zum 80. Mal jährt: “Stalingrad” steht bis heute für eine Schlacht der Superlative, in der auch Zigtausende Österreicher den Tod fanden.Der Wiener Filmemacher und Dokumentarist Ascan Breuer nimmt das zum Anlass, die knapp einhundert Feldpostbriefe seines Großvaters, die dieser als einfacher Soldat der 6. Armee zwischen Juni 1942 und Januar 1943 an seine Frau geschrieben hatte, neu zu lesen und sich auf Spurensuche vor Ort im Osten Europas zu machen. Daraus ist die Doku-Webserie “Starless in Stalingrad” entstanden, die zurzeit auf sozialen Plattformen im Internet zu sehen ist.
Recherchen in Russland vor Pandemie und Ukraine-Krieg
Die Expeditionen zu den weit entfernten Absendeorten der Briefe führt den Enkel über 2.000 Kilometer quer durch die russische Steppe: ausgehend von Weißrussland, den Don stromabwärts bis ins südrussische Wolgograd, dem damaligen Stalingrad. Bereits 2018 hat er damit begonnen, Geschichte und Geschichten dieser vergessenen Orte im Nirgendwozu dokumentieren, die im Grenzgebieten des heutigen Ukraine-Konflikts liegen. Dort hat er mit Einheimischen und mit lokalen Expert:innen zahlreiche Gespräche geführt. Doch Covid-Pandemie, Aufstand in Belarus und zuletzt der Krieg im Donbass setzten diesen Feldforschungen ein Ende.
Von einer virtuellen “Echtzeitreise”…
Die Briefe seines Großvaters hatte der Filmemacher bereits vor fünf Jahren in sozialen Medien veröffentlicht – als“virtuelle Echtzeitreise”, wie er es nannte: jeder Brief erschien dabei online – auf den Tag genau 75 Jahre nach dessen Niederschrift. Tausende Follower:innen haben den außergewöhnlichen Reisebericht monatelang “in Echtzeit” verfolgt – bis zum bitteren Ende. Die letzten Briefe schrieb der Soldat Max Breuer, von Hunger gezeichnet, aus dem “Kessel”heraus. Aber schon sein erster Brief bei seiner Ankunft im vorangegangenen Frühling beginnt düster: “Am schlimmsten war es, als wir durch Polen fuhren. Dort liefen die Kinder am Zug entlang und riefen: ‚Bitte Brot!‘ Man denke mit Schrecken daran, was dieser Krieg für ein Elend über die Menschheit gebracht hat und noch bringen wird.”
…zur Doku-Webserie auf TikTok
Auf dieser Grundlage veröffentlicht jetzt der Enkel wieder einen Reisebericht der anderen Art, wieder auf Social Media: Das bei den Vor-Ort-Recherchen gesammelte Videomaterial verknüpft der Filmemacher in seiner Videoserie mit der spannenden Brieferzählung seines Großvaters: In sehr kurzen “Reels” – das sind höchstens einminütige Videos in Hochkant-Format, die auf Facebook, Instagram, TikTok und YouTube unter @starlessinstalingrad zu sehen sind – verknüpft er die Brieferzählung nicht nur mit den realen heutigen Orten, er stellt ihnen auch die zahlreichen Gespräche, die er vor Ort geführt hatte, gegenüber. So kommt Avigdor Nosikov, der Rabbiner der kleinen jüdischen Gemeinde von Woronesch, zu Wort und unterstützen den Enkel des damaligen Besatzungssoldaten als Wegweiser zu Orten undokumentierter Verbrechen in der russischen Steppe. Und im weißrussischen Babrujsk macht Breuer eine Zeitzeugin ausfindig, die sich mit ihm in ihre Heimatstadt des Jahres 1942 zurückversetzt.
Erste Staffel: 23 “Videogrüße” aus Belarus
In den sozialen Kanälen von @starlessinstalingrad kann man sich jetzt wieder auf eine lange Reise begeben, dieses Mal ganz zeitgemäß mit Bild und Ton. Fürs Erste hat der Filmemacher 23 Episoden der 1. Staffel hergestellt, die sich auf die ersten neun Briefe aus Weißrussland beziehen. “Ich finde es spannend, die intime Schlichtheit der Feldpostbriefe in die minimalistische Form von Webvideos zu übertragen: In kurzen, skizzenhaften Schnipseln lässt sich das Thema in voller Breite und in seinen vielfältigen Verzweigungen erzählen.”
Das erdrückende Erbe
Der Filmemacher, selbst deutsch-indonesisch-chinesischer Abstammung, fühlt dabei das historische Gewicht der Schlacht und all ihrer Diskurse der vergangenen 80 Jahre, aber “viel mehr interessiert mich die Aufgeschlossenheit und Neugier, mit der mir die Menschen in Belarus und Russland begegnet sind.”
Seinen Großvater, in zivil Beamter der Reichsbank, dessen Briefe die einzige Hinterlassenschaft für den Enkel darstellen(er ist nie heimgekehrt), bezeichnet der Nachgeborene als “typischen Mitläufer seiner Zeit”. Das bezeugt auch seine vollständig erhaltene Reichsbank-Personalakte. Als kriegsunwilliger Soldat aber äußert er sich in den Briefen an seine Frau kritischer und macht aus seinem Herz keine Mördergrube: “Heute kann ich verstehen, dass man die Deutschen als Barbaren bezeichnet,” gesteht Max Breuer in seinem 25. Brief vom 1. August 1942 aus Rossosch, angesichts der Gräuel, dessen er Zeuge wird.