In den 7 Monaten vom 5. Juni 1942 bis 5. Januar 1943 schrieb mein Großvater ca. 100 Briefe – alle abgesendet aus der damaligen Sowjetunion an meine Großmutter, die hochschwanger mit meinem Vater im Bauch in Hamburg saß – wo gerade der Bombenkrieg beginnt.
Mein Großvater wurde als 33-jähriger Beamter bei der Reichsbank im Frühjahr 1942 zum Kriegsdienst eingezogen, um als Soldat der Wehrmacht am Angriff auf Stalingrad teilzunehmen. In seinen Briefen berichtet er von seinen Erfahrungen und Impressionen, Gefühlen, Hoffnungen und Einstellungen.
Kriegshistorischer Hintergrund: Ein Jahr zuvor, im Juni 1941, hatte die Wehrmacht die UdSSR angegriffen. Die deutsche Offensive war aber – nach anfänglichen Erfolgen – im Winter 1941 gescheitert. Im ersten Jahr des „Russland-Feldzugs“ verlor die deutscher Seite geschätzt 500.000 Mann – diese wurden nun durch neues „Menschenmaterial“ ersetzt. Eine neue deutsche Offensive war eine ausgemachte Sache, aber wohin sollte diese gehen? Stalin rechnete mit Moskau als Ziel, weshalb er dort den Großteil seiner Truppen versammelt hat…
Rahmen und Inhalt der Briefe
Vom ersten Moment der deutschen Sommeroffensive 1942 in Russland bis zum katastrophalen Scheitern im Kessel von Stalingrad hat Max Breuer als einfacher Soldat der 6. Armee einhundert Briefe an seine Frau in Hamburg geschrieben. Innerhalb von etwa 200 Tagen berichtet er ihr tagesaktuell aus unterster Perspektive. Bereits in seinem ersten Brief weiht der Bankinspektor sie ein in seine bedrückenden Impressionen:
„Am schlimmsten war es, als wir durch Polen fuhren. Dort liefen die Kinder am Zug entlang und riefen: ‚Bitte Brot!‘ Man denke mit Schrecken daran, was dieser Krieg für ein Elend über die Menschheit gebracht hat und noch bringen wird. Und jetzt naht auch schon der Tag der Geburt immer mehr. Mich quält nur der Gedanke, dass Du jetzt alle Arbeit, die damit zusammenhängt, alleine machen musst.“ (5. Juni 1942)
Die Briefe beginnen mit seiner Ankunft in Weißrussland (Anfang Juni 1942), führen uns quer durch die russische Steppe, den Don südwärts, in die Schlacht um Stalingrad (ab Ende August) und in den Kessel hinein (ab Ende November), und enden kurz vor Einbrechen der Roten Armee in den Kessel (Anfang Januar 1943).
In seinen Briefen berichtet Breuer ausführlich, offenherzig und sehr intim, manchmal sarkastisch, oft blauäugig von seinen Beobachtungen als rangloser, unerfahrener Soldat an der Ostfront – sowie auch von seinen Gefühlen und Leiden, Hoffnungen und Wünschen, die sich insbesondere um die ungewisse Geburt seines zweiten Kindes sowie das Schicksal seiner Familie in der Hansestadt im Allgemeinen drehen, wo gerade der Bombenkrieg begonnen hat:
„Nur schade, daß unser Kai auch mal Soldat werden muß. Hoffentlich ist in 20 Jahren die Welt etwas friedlicher. Ich wundere mich nur, daß sie Toni trotz seiner Plattfüsse k. v. (kriegsverwendungsfähig) geschrieben haben. Aber wir brauchen Kanonenfutter.“ (11. September 1942)
Am 20. Juli 1942 wird er in der Stadt Woronesch Zeuge der Judendeportationen aus Ungarn:
„Interessant ist, daß sie (die ungarische Armee) ihre ganzen Juden aus Ungarn mitgebracht haben. Diese setzen sie hier zum Straßenbau ein. Wie ich beobachten konnte, haben die hier nichts zu lachen. Wir hatten einigen mal Wasser gegeben, sofort kamen alle angelaufen. Sofort kam der Aufseher und schlug sie mit einem Stock auseinander.“
Kritisch geht er zuweilen auch mit dem Verhalten seiner eigenen Kameraden ins Gericht. Er berichtet meiner Großmutter:
„Es wird Dich interessieren, auch mal etwas über die Kameradschaft zu hören. Das ist ein Begriff, der überall, nur nicht in der Wehrmacht existiert. Der Kamerad ist im Krieg 1914-18 gefallen, sagt eine Redewendung. Du müsstest nur mal sehen, wie die Brüder den Russen ihre letzten Hühner und Gänse vom fahrenden Auto aus abknallen. Ich habe heute mal wieder die Nase von dem verdammten Krieg gestrichen voll. Unser Weg führt immer noch südlich, wahrscheinlich kommen wir noch ans Schwarze Meer.“ (1. August 1942)
Feldpost-Briefe multimedial
Von der virtuellen“Echtzeitreise“ zur Video-Webserie…
„Starless in Stalingrad“ ist ein vieldimensionales, multimediales und über die sozialen Medien interaktives Projekt, das sich ständig in Entwicklung befindet.
Sinn dieser Initiative ist es nicht, nostalgische Geschichtsverklärung zu fördern, sondern im Gegenteil wollen wir mittels dieser einzigartigen und authentischen Erstquelle eine tiefgehende und spannende Auseinandersetzung mit Geschichte und Politik ermöglichen – ohne den Lesern Vorgaben zu machen, wie sie diese zu interpretieren haben.
1. Schritt: Echtzeitreise (Juni 2017 – Februar 2018)
Im Juni 2017 begannen wir diese einzigartigen Zeitdokumente in Form einer Echtzeitreise online zugänglich zu machen – Stück für Stück, Tag für Tag, immer genau 75 Jahre nach dem Verfassens der Briefe.
Über 8000 Menschen haben dieser interaktive Echtzeitreise hier im Blog und auf Facebook live verfolgt.
2. Schritt: Recherchen vor Ort (2018/19)
Im Laufe unserer gemeinsamen „Echtzeitreise“ haben wir uns dazu entschieden, unseren einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen: Mit Hilfe von Crowdfunding und durch verschiedene institutionelle Unterstützungen sind wir im Mai 2018 für vier Wochen nach Russland gereist und haben an den Orten der Briefe audiovisuelle Untersuchungen angestellt. Die Expedition führte uns von Kursk, den Don flussabwärts bis nach Wolgograd.
Eine zweite Recherchereise führte uns im September 2019 nach Babrujsk in Weißrussland, von wo aus die ersten neun Briefe (5. – 23. Juni 1942) geschrieben worden sind.
3. Schritt: Alle Briefe als e-Book (seit Dezember 2018)
Das eBook von STARLESS IN STALINGRAD ist jetzt mit allen bekannten Briefen und – exklusiv! – mit persönlichem Nachwort im Handel erhältlich!
Reinblättern und Herunterladen:
Das eBook ist auch bei allen anderen Online-Buchhändlern verfügbar…
Mit dem Erwerb unterstützen Sie den Fortgang des Gesamtprojekts in seinen verschiedenen Facetten. Die Briefe selbst werden natürlich auch zukünftig online im Volltext und zur Gänze kostenfrei in unserem Blog verfügbar bleiben!
Weitere Informationen zum e-Book:
4. Schritt: Die Video-Webserie (ab Dezember 2022)
Folge uns uns auf Facebook, Instagram, YouTube, LinkedIn und hier im Blog!
Impressum
DOKU
MENTA
RISCHES
LABOR
Wiener Institut für Dokumentarfilm
1020 Wien, Österreich
ZVR: 678258370
IBAN: AT06 2011 1000 0324 4415 (Erste Bank / Wien)
Projekt-Verantwortlicher: Mag. Ascan Breuer
Einmalig spenden
Monatlich spenden
Jährlich spenden
Wähle einen Betrag
Oder gib einen anderen Betrag ein
Wir wissen deine Spende sehr zu schätzen.
Wir wissen deine Spende sehr zu schätzen.
Vielen Dank!
SpendenMonatlich spendenJährlich spenden