Da es ständig so sein wird, dass wir beim Lesen vor die Frage gestellt werden, wie wir das denn nun zu verstehen haben, dass wir uns darüber Gedanken machen wollen und müssen, was wie gesagt wird, und auch was nicht gesagt wird, und warum, etc, möchte ich darauf hinweisen, dass es nicht optimal wäre, daraus endgültige Schlüsse zu ziehen.
Das betrifft schon so oberflächige Fragen wie zum Textaufbau: Oft werden Gedanken und Erzählungen angefangen oder nur angedeutet, schon wird im nächsten Satz wieder über etwas ganz anderes gesprochen. Das könnte einem erst einmal „gefühllos“ erscheinen, besonders wenn es sich um Beschreibungen von extremen Umständen handelt. Dieser Umstand ist allerdings erst einmal auch dem Medium des handgeschriebenen Briefes geschuldet. Natürlich hatte er nicht die Möglichkeiten, die uns der Computer heute bietet, Texte nach belieben wieder zu ändern, Passagen hinzuzufügen, umzuformulieren, zu streichen, zu verschieben, etc. (so wie ich es gerade auch tue). Tatsächlich hat er die Briefe auf einem Fetzen Papier verfasst, und das, wie er berichtet, unter widrigen Umständen. Die Briefe weisen auch keine großen Änderungen, Streichungen, etc. auf. Auch wurden sie sehr wahrscheinlich nicht vorformuliert um dann in Reinschrift abgeschrieben zu werden. Aus diesem Grund haben die Texte die – vielleicht authentische – Sprunghaftigkeit eines vieldimensionalen Gedankenstroms, vielleicht sogar die eines Traums.
Darüber hinaus ist nicht mit Genauigkeitzu nachzuvollziehen, welches Wissen er überhaupt von seiner Lage hatte – geschweige denn von der Weltlage. Deutlich wird allerdings, dass er den festen Willen zu haben scheint, sich damit nicht mit der notwendigen Hingabe zu befassen. Seine Hingabe will er ganz auf seine Familie beschränken. Auch dies lässt sich aus heutiger Sicht definitiv als großer Fehler betrachten. Allerdings wäre auch hier ein zu moralisches Urteil vielleicht ein unmoralisches Vorurteil. Denn was wissen Sie von seiner Kindheit, und warum er an der naiven Vorstellung einer glücklichen Ehe und Familie festhält? Wussten Sie etwa, dass er die meiste Zeit im Heim und bei Freunden untergebracht war? Dass seine geschiedenen Eltern, die während des Zeitraums der Briefe in Köln sitzen, ihn die meiste Zeit zu Fremden weggegeben hatten? Und das nicht aus finanziellen Gründen. Aber denken Sie an seine Eltern, wenn er über die Bombenangriffe in Köln schreibt. Es wird Ihnen etwas auffallen, etwas Abwesendes…
Ich weiß allerdings selbst viel zu wenig über ihn. Deshalb sollten wir davon Abstand nehmen, nur ein einziges Urteil zu sprechen, und andere mögliche Urteile auszuschließen. Vielleicht geht es auch gar nicht darum zu „urteilen“, auch wenn uns das Freude bereiten sollte. Es geht doch vielmehr um das Begreifen. Und das sollte angemessen sein, aber es muss nicht vollständig sein. Also sollte unser Begriff beweglich bleiben – gültig, aber nicht end-gültig.
Danke für Ihr Interesse.
Ein Urteil oder eine (Be-)Wertung steht dem Leser nicht zu, sofern er nicht den gesamten Kontext kennenlernen durfte und folglich einbeziehen kann in seine Schlussfolgerungen. Die Briefe sind allesamt ein wertvolles Zeitdokument und bietet guten Einblick in das Leben und die Gedanken der „normalen Menschen“ jener Zeit. Vielen Dank, dass Sie diese auch sehr persönlichen Gedanken öffentlich zugänglich gemacht haben. Dies zu lesen ist oftmals nicht nur spannend sondern auch emotional berührend.
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