Echtzeitreise in 5 Akten (und Epilog)

Max-Breuer_Starless-In-Stalingrad_Dokumentarisches-Labor

Das ist mein Großvater Max Breuer.

Auf seine Rückkehr wartete meine Großmutter, bis die letzten Kriegsgefangenen 1955 heimgekehrt waren. Vielleicht wartete sie sogar noch länger, doch er blieb „vermisst“ – bis heute. Ich selbst habe ihn also nie kennengelernt – außer über die Briefe…

Zuletzt wurde er am 2. März 1943 in einem Keller in Dubowka, 40 km nördlich von Stalingrad, von einem Offizier seiner Batterie, Horst Schellekamp, gesichtet.

Seine Tochter Heidi hat den Ort 2006 besucht:

Anm.: Frau auf Foto ist nicht seine Tochter Heidi.

 

Sein Name ist auf einem Denkmal der Deutschen Kriegsgräberstätte Rossoschka vermerkt:

Rossoschka-Friedhof-2006_Max-Breuer_Starless-In-Stalingrad_Dokumentarisches-Labor


Hier eine kurze Zusammenfassung der Echtzeitreise in 5 Akten (plus Epilog), beginnend beim ersten Brief (5. Juni 1942) bis zum allerletzten, in dem wir durch Horst Schellekamp von seinem letzten Aufenthaltsort erfahren:


1. Akt – Ankunft

(5. – 28. Juni 1942)

Am 5. Juni 1942, dem Tag des ersten Briefs, kommt Max Breuer in der Sowjetunion an, wo sich die Truppen in Babrujsk (Weißrussland) sammeln.[1]

Er hat eine hochschwanger Frau und seine dreijährige Tochter in Hamburg zurückgelassen. Deshalb ist es eine seiner ersten Handlungen nach seiner Ankunft ein „Gesuch“ abzugeben,[2] von dem er sich die baldige Rückfahrkarte verspricht. Schon bald muss er allerdings alle Hoffnungen auf „Vaterschaftsurlaub“ aufgeben.[3]

Er übernimmt unverhofft den Posten eines Rechnungsführers im Tross,[4] und freut sich, dass ihm dadurch der direkte Fronteinsatz erspart bleibt. Als gelernter Bankkaufmann freut er sich auch über die für ihn spannendere Aufgabe.

Er hat noch immer keine Post von seiner Frau erhalten. Deshalb ist er im Ungewissen über den Fortgang der Schwangerschaft bzw. über die Geburt seines zweiten Kindes, die in diesen Tagen erwartet wurde. Mit dem 9. Brief[5] ist der 1. Akt abgeschlossen.


2. Akt – Aufbruch

(28. Juni – 5. August 1942)

Ohne dass er ein Lebenszeichen von seiner Frau erhalten hatte, erfolgt drei Wochen nach seiner Ankunft der Abmarsch zur Sommeroffensive 1942 mit für ihn noch unbestimmtem Ziel. Mit seiner motorisierten Artillerieeinheit rückt er in Kolonnen in schnellem Tempo Richtung Don vor. Erstmals erhält er Eindrücke von dem aktuellen Kriegsgeschehen und dessen unmittelbaren Auswirkungen. Er hat große Schwierigkeiten, sich an das „Vagabundenleben“ im Zelt zu gewöhnen.[6][7]

Erst am 10. Juli 1942 berichtet er seiner Frau, dass er erstmals Post von ihr erhalten hat, ohne Nachricht über die noch bevorstehende Geburt seines zweiten Kindes.[8]

Am 12. Juli 1942, dem Tag der Geburt seines Sohns, von der er allerdings nichts weiß, bricht die Achse seines Fahrzeugs und er bleibt mit einer vierköpfigen LKW-Mannschaft in einem Wald nahe „K.“ zurück, während seine Einheit weiterzieht.[9] Dort sitzt er beim Warten auf Ersatzteile eine Woche lang fest.

Nach Beheben des Schadens berichtet er von seiner weiteren Reise Richtung Südost, die die LKW-Mannschaft allein auf sich gestellt meistern muss – immer der eigenen Truppe mehrere Tagesreisen hinterher. Der Bestimmungsort ist weiterhin unbekannt. Während dieser Fahrt über 2.000 Kilometer, die ihn vermutlich auch durch die Orte Kursk, Ostrogoschsk, Rossosch und Woronesch führt, kommt er immer mehr in Berührung mit den für ihn ungewohnten und schrecklichen Umständen des Kriegs, ohne jedoch mit dem Kampfgeschehen direkt in Berührung zu kommen. Sie passieren Orte, an denen jüngst Schlachten stattgefunden haben.[10]

Während der Reise offenbart sich seine Abneigung gegen die gesamten, ihm aufgebürdeten Lebensverhältnisse, auch gegenüber seinen Kameraden, mit denen er auf engstem Raum leben muss.[11]

Insgesamt sechs Wochen lang, von Ende Juni bis Anfang August 1942, reist Max Breuer so einen Parcours durch die russische Steppe, und findet erst am 5. August 1942 seine Einheit wieder. Diese steht gerade vor den Toren Stalingrads, wo sie gerade in die Kesselschacht bei Kalatsch verwickelt ist.[12]

Am Ende des zweiten Aktes, genau 2 Monate nach seiner Ankunft in Russland Anfang Juni, rätselt er immer noch darüber, ob er überhaupt einen zweiten „Sprössling“ hat und wie es um ihn steht.


3. Akt – Frontnah

(7. August – 13. September 1942)

Mit den Briefen Nr. 29[13] und 30[14] vom 7. August 1942 beginnt der 3. Akt. Er nimmt seinen Rechnungsführerposten hier wieder auf – im sicheren Abstand vom Kampfgeschehen. Im Tross, der nach Angabe des Ofiiziers seiner Batterie, Horst Schellekamp, zu der Zeit in Wertjatschi stationiert ist,[15] bekommt er wenig von den Kampfhandlungen mit, das mit dem Angriff der Wehrmacht auf Stalingrad am 23. August 1942 einsetzt. In dessem Zug ist seine Batterie zur gleichen Zeit in Kämpfe am Nordrand Stalingrad verwickelt, wo diese bis zum letzten Tag der Schlacht bleiben wird, berichtet Schellekamp: „Wir erreichten nördlich des Traktoren-Werkes zwischen dem Ortsteil Rynok und Spartakowka die Wolga. Unsere Kräfte waren verhältnismäßig schwach. Später (…) besetzte (der Russe) beide Ortsteile wieder. (…) Die Battr. bezog Feuerstellungen im Nordriegel mit Schußrichtungen nach Norden und Osten“, berichtet Schellekamp.[16]

Wie er selbst bekundet, ist das einzige, was ihn in dieses „Schlamassel“ hineintreibt, die Sorge um seine Familie, für die er sich das alles antut, um für sie zu überleben – mit allen Mitteln. Im Widerspruch dazu steht, dass es ihn immer weiter von seinen Liebsten wegtreibt.[17]

Endlich bekommt er wieder Post! Seine Vaterpflichten, die nach der erlösenden Gewissheit über die Geburt seines zweiten Kindes nun doppelt schwer wiegen, sind für ihn weit wichtiger als alles andere.[18]

Alle seine Hoffnungen setzt er auf seinen Rechnungsführerposten, der ihn von der Front fernhalten soll. Mit diesem Argument versucht er seine Frau wiederholt zu beruhigen.[19]

Gleichzeitig hat er nun genug Muße, um regelmäßig viele lange Briefe zu schreiben. Routine stellt sich ein. In dieser Phase sind die Briefe mit der Schreibmaschine geschrieben und geprägt durch die langen Einlassungen über alltägliche Probleme, die er als Antwort auf die Briefe seiner Frau schreibt. Er kann sich nun um familiäre und häusliche Dinge wie Elektroreparaturen, etc. kümmern, wegen derer er von seiner Frau um Rat gefragt wird.

Ein Schwerpunkt seiner Sorgen, die ihn umtreibt, betrifft die Frage, wie sich seine Frau und Kinder vor den Bombenangriffen auf Hamburg schützen können, von denen er am 1. August 1942 da erste Mal erfährt.[20] Ihm wäre es am liebsten, dass sie sich dauerhaft aufs Land begeben – koste es, was es wolle.[21][22]


4. Akt – Front

(13. September – 22. November 1942)

Mit dem 46. Brief vom 15. September 1942[23] beginnt der 4. Akt, der ihn direkt an die Front von Stalingrad führt. Den Posten als Rechnungsprüfer seiner Einheit, den er nur als Vertretung übernommen hat, musste er wieder abgeben. Diese Entwicklungen versucht er seiner Frau eine Woche lang zu verheimlichen und beichtet es ihr erst im 47. Brief vom 17. September 1942.[24]

Seit dem 13.09.1942 wird er als Soldat bei der Offensive auf die Innenstadt Stalingrads eingesetzt. Er fungiert dabei als Fernsprecher seiner Artillerieeinheit, die am sogenannten „Nordriegel“ operiert.[25] Auch hier nimmt er eine vom direkten Kampfgeschehen distanzierte Perspektive ein: von oben herab, von den umliegenden Bergen auf die mit seiner aktiven Beteiligung in Brand geschossenen Stadt.[26]

Nebenbei organisiert er auch von der Front aus eine dauerhafte Unterkunft auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide.[27][28] Doch möchte seine Frau Hamburg nicht verlassen und verweigert sich seinen Plänen für sie und ihre Kinder. Diese Diskussion zieht sich durch den ganzen 4. Akt hindurch.

Mittlerweile hat sich die Schlacht aufgrund des entschiedenen Widerstands der Roten Armee bereits zu einer der verlustreichsten dieses Krieges entwickelt. Diesen Umstand ahnte er zumindest bereits, und im 48. Brief vom 20. September 1942 wird er berichten: „Mit Stalingrad scheint es nicht richtig vorwärts zu gehen. Teilweise sind unsere Truppen schon in der Stadt. Aber der Russe leistet erbitterten Widerstand und versucht dauernd, unsere Front zu durchstoßen. Erst gestern ist er bei unserer Fahrzeugstellung durchgebrochen.“[29]

Jedenfalls erweist er sich weiterhin als halbherziger Soldat, der in dem Krieg für sich und seine Familie keinen Sinn erkennen kann. Im 48. Brief schreibt er: „Nur gut, daß Heidi und Kai von dieser Zeit noch nichts merken. Du, mein liebes Frauchen, mußt leider diese ‚große‘ Zeit miterleben.“[30]

In seinem 66. Brief vom 30. Oktober 1942 fällt ihm dann ein Trick ein, sich einen Urlaub erschleichen zu können, indem er seine Frau bittet, eine schwere Erkrankung in Verbindung mit der Geburt des Kindes vorzutäuschen.[31]

Der Winter rückt näher, der von ihm mit Bangen erwartet wird, von dem er bereits am 17. September 1942 schreibt: „Nur weg aus diesem Land, das mit seinem bevorstehenden Winter wie ein Gespenst auf alle Landser wirkt.“[32]

Und dieser bringt neben der Kälte noch einen anderen hartnäckigen Feind mit sich: Läuse. Erst nur vereinzelte, dann zig, dann unzählige. Am 1. November 1942 schreibt er: „Heute Mittag entdeckte ich, daß ich in der linken Achselhöhle eine Unmenge winziger Läuse, ein richtiges Nest, hatte. Einzeln konnte man diese Viehchen garnicht alle knacken. Ich habe mir deshalb dort die ganzen Haare wegrasiert.“[33]


5. Akt – Kessel

(23. November 1942 – 5. Januar 1943)

Seit 19. November 1942 überschlagen sich die Ereignisse, denn die Rote Armee hat äußerst erfolgreich ihre Operation Uranus begonnen, die nur wenige Tage später, am 23. November 1942, zur vollständigen Einkesselung der 6. Armee führte. Ab diesem Zeitpunkt wird er keine Nachricht mehr von seiner Frau erhalten. Er aber schreibt noch sechs Wochen lang aus dem Kessel weiter, bis zum 5. Januar 1943.

Während des gesamten 5. Aktes wird er sich in dem Dorf Karpowka am äußersten Westrand des Kessels befinden, denn genau am Tag des Beginns der sowjetischen Offensive zur Einkesselung wird er vom Kampfeinsatz zurück in den Tross beordert, um den Rechnungsführerposten wieder aufzunehmen. Doch durch die völlig überraschende Einkesselung kommt er „vom Regen in die Traufe“, wie er seinem Schwager „Ludsche“ im Brief an diesen vom 25. November 1942 berichtet.[34] Diesen unglücklichen Umstand verheimlicht er aber wohlweislich seiner Frau, denn „sie würde einen großen Schrecken bekommen, wenn sie davon wüßte“, wie er im gleichen Brief schreibt.

Weihnachten und Neujahr werden von Hunger und Hoffnungslosigkeit beherrscht. Max Breuer berichtet von Unterversorgung[35][36][37] und von seinen Nervenzusammenbrüchen während der „Festtage“, sowie von seiner weiterhin großen Abneigung gegenüber der Kameradschaft.[38]

Der Briefverkehr endet kurz nach Neujahr mit dem plötzlichen Tod seines besten Freundes Heinrich Hinselmann, Sohn von Hans Hinselmann, aufgrund einer einfachen Angina. Er eile zum Begräbnis und verspricht, einige Fotos zu machen und sie dem Vater des Freundes zu schicken.[39]


Epilog

(5. Januar – 2. März 1943)

Bis zu seiner Gefangennahme am 2. Februar 1943 im Nordkessel von Stalingrad vergehen weitere vier Wochen. Max Breuer hat während des gesamten Verlaufs des 5. Aktes bis zum letzten Brief am 5. Januar 1943 nach eigenen Angaben beim Tross in Karpowka verbracht. Am 10. Januar 1943 beginnt genau dort die sowjetische Offensive auf den Kessel.

Karpowka und Stalingrad trennt eine mit Tiefschnee bedeckte Steppenlandschaft und eine Distanz von ungefähr 40 Kilometern. Es herrscht akuter Treibstoffmangel. Janusz Piekalkiewicz berichtet in „Stalingrad. Anatomie einer Schlacht“ (1993) über die Wetterverhältnisse am 10. Januar 1943 von Schneesturm bei minus 30 Grad. Der Tross wird von Karpowka über die Flugplätze Pitomnik und Gumrak zur Batterie geführt, die weithin am Nordriegel stationiert ist. Dort beziehen sie nach Darstellung des Offiziers Horst Schellekamp Stellung vor dem Haupteingang des Traktorenwerks und bewohnen am selben Ort einen Keller.[40]

Nach dem Zerfall des Kessels in mehrere Teile befindet sich Max Breuer im „Nordkessel“. Schellekamp berichtet, dass die Batterie die letzte schwere Waffe des Nordkessels gewesen sei, die sich noch Munition aufgespart hat, sodass die Mannschaft dem infanteristischen Einsatz bis zur Gefangennahme am 2. Februar 1943 entging. Der Keller sei „wohnlich eingerichtet“ worden und genau vor dem Abwurfplatz für Versorgungsgüter gelegen, sodass die Mannschaft auch nicht an Hunger leiden hat müssen.

In drei Tagesmärschen kam Max Breuer mit anderen Kriegsgefangenen in das Erstaufnahmelager Dubowka, das ungefähr 40 Kilometer nördlich von Stalingrad gelegen ist. Dort verliert sich seine Spur. Am 2. März 1943 wird er von Horst Schellekamp das letzte Mal in einem Keller gesichtet.

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