ALLERLETZTER BRIEF

Vorbemerkungen: Heute vor 8 Monaten (und 75 Jahren), am 5. Juni 1942, schrieb mein Großvater seinen ersten Brief aus Russland, und heute vor einem Monat (und 75 Jahren) seinen letzten. Ganze 8 Jahre und 7 Monate lang wartete seitdem meine Großmutter auf ein Lebenszeichen, ohne auch nur einen einzigen Wink zu erhalten, ob er noch lebt, und wenn ja, wie es ihm geht, und wenn nicht, wo, wann und unter welchen Umständen er gestorben sei. Ich weiß, dass dies für einige unvorstellbar und absolut nicht nachvollziehbar ist, denn das zeigt die Ungeduld so manche Reaktion von ‚Usern‘, auch nur ein paar Tage oder auch Wochen darauf warten zu müssen. Manche wenige hier glauben sogar, sie hätten ein „Recht“ darauf, es sofort zu erfahren (nein, das „Recht“ haben Sie nicht), einige glaube sogar, bei unserem Versuch, die Ereignisse hier in „Echtzeit“ nachzuvollziehen, handele es sich um einen ausgebufften Marketingtrick (nein, wir wollen Ihr Geld nicht, wenn Sie das Projekt nicht freiwillig unterstützen wollen). Dies ist kein zeitgenössischer „Erlebnispark“ für Vergnügungssüchtige!

Zum Glück haben aber die meisten durch das Festhalten am Echtzeit-Modus doch auch ein Verständnis dafür bekommen, wie langwierig das sinnlose gegenseitige Morden um #Stalingrad angehalten hat: über 5 Monate! Dass wir nun 3 Tage auf etwas warten müssen, worauf meine Großmutter fast 9 Jahre warten musste, ist ein großes Privileg. In diesen Jahren erlitt ihre Heimatstadt Hamburg dasselbe Schicksal wie Stalingrad – und wie so viele andere Städte weltweit: Die Hansestadt ging im Feuersturm unter. Meine Großmutter, ihre beiden Kinder, darunter mein Vater als Baby, sowie die Eltern meiner Großmutter überlebten dies im Luftschutzkeller. Das Haus in der Gneisenaustraße, wo meine Großmutter mit ihren beiden Kindern lebte, überstand all das wie durch ein Wunder. Allerdings wurde die Fleischerei meiner Urgroßeltern ausgebombt, weshalb meine Großmutter, die nie eine Ausbildung erhalten hat, nicht nur ihre beiden Eltern bei sich für die nächsten 10 Jahre aufnehmen musste, sondern auch die gesamte Familie ohne die Unterstützung meines Großvaters als Fußpflegerin durchbrachte. Gleichzeitig wurde die Stadt, wie Stalingrad auch, wieder aufgebaut…

Mein Vater ist mittlerweile bereits seit einigen Jahren schulreif, und erlebt spielerisch seine kindlichen Abenteuer zwischen den Ruinen seiner Heimatstadt, die er nie anders als zerbombt kennenlernen durfte – in diesem Szenario trudelt der folgende Brief bei meiner Urgroßmutter in Köln, der Mutter meines Großvaters, ein. Es ist der Brief vom ersten Heimkehrer der Batterie meines Großvaters, dem der „Bericht eines Heimkehrers“ beigefügt war, den Sie ja schon kennen (siehe auch die erste Analyse des Berichts). Während sich der Bericht mit den Ereignissen, die die Batterie allgemein betreffen, befasst, erzählt Horst Schellekamp in seinem Brief über seine persönliche Beziehung zu meinem Großvater beim „Kommiss“ – und offenbart sein Wissen über seinen Verbleib.

Alle, die zu solcher Empathie fähig sind, bitte ich, sich in die Situation meiner Großmutter hineinzuversetzen, die all ihre Hoffnungen darein setzt, dass es meinem Großvater gut geht, und dass er eines Tages zurückkehren wird…

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Mülheim-Ruhr, 31.8.51

Meine sehr geehrte, gnädige Frau!

Ich habe Ihren Brief mit recht viel Freude erhalten und ich darf mich dafür recht herzlich bei Ihnen bedanken. Indem sie sich, durch das Rote Kreuz benachrichtigt, an mich wandten´, darf ich Ihnen nun endlich schreiben. Meine Versuche, seit meiner Heimkehr am 4. Dez. 1949 über alle nur möglichen Stellen in den Besitz der Anschriften der Angehörigen unserer Batterie zu gelangen, schlugen alle fehl. Bis nun endlich diese Großaktion des Roten Kreuzes kam und die Angehörigen der 43 vermißt gemeldeten Männer unserer Battr. mir nun schreiben. Ich war erschüttert, als ich bei meiner Heimkehr im Durchgangslager Friedland dort in der Registratur feststellen mußte, daß ich bis zu dem Zeitpunkt der erste Heimkehrer unserer Battr. war. Unsere Feldpostnummer 26874 war dort gar nicht bekannt. Wir hatten ja als Heerestruppe eine eigene Battr. Fpn. Ich habe einmal für unsere Männer sorgen dürfen, nun war es meine Pflicht, an ihre Angehörigen zu denken.

Sie baten mich, zu Ihnen nach Köln zu kommen, um sich mit mir eingehend unterhalten zu können. Gerne werde ich Ihrem Wunsch nachkommen. Leider ist es mir in kürzester Zeit noch nicht möglich, da ich persönlich sehr viel Arbeit habe. Ich bin mit 32 Jahren jetzt das zweite Jahr in der Lehre, um später einmal in das Fach des Drogisten hineinzukommen. Für mich ist es nicht ganz leicht. Aber ich komme doch zu Ihnen.

Vorher darf ich Ihnen noch etwas von Ihrem Sohn, meinem Kameraden Max Breuer erzählen, wobei die letzte bange Frage von meiner Seite aus immer offen bleiben wird. Ich habe Max in lieber, guter Erinnerung. Wir sind uns während des Erlebens an Frost (Tross?) gute Kameraden geworden. Er war aufgeschlossen und immer hilfsbereit. Ich habe ihn gern gemocht. Ich bin erschüttert, daß über ihn auch noch Russland schweigt.

Ich bin mit Max am 2. Februar 1943 gesund in die Gefangenschaft gegangen und bei unserer endgültigen Trennung am 2. März 1943 im Auffanglager Dubowka lebte er noch. Der Kräftezustand allerdings war bei uns allen sehr schlecht. Ich habe einen kleinen Bericht zusammengestellt, den ich allen Angehörigen zusende. Er soll von unserer gemeinsam verlebten Zeit erzählen und dort fortfahren, als die Postverbindung mit der Heimat aufhörte. Für Sie bringt er genaue Anhaltspunkte. Ich habe leider seit unserer Trennung nie mehr etwas über Max in Erfahrung bringen können.

Meine Hilfe für Sie, meine sehr geehrte, gnädige Frau ist nur sehr bescheiden. Möge einmal diese schreckliche Ungewißheit von Ihnen genommen werden. Ich fühle in der Sorge um Max mit Ihnen. Meine tiefste Anteilnahme darf ich Ihnen versichern.

Ihre Schwiegertochter (Anm: meine Oma in Hamburg, die Empfängerin der Briefe) schrieb mir auch. Ich möchte Sie herzlichst bitten, da ich noch nicht die Zeit habe, ihr ausführlich zu schreiben, sie von meinem Brief zu unterrichten.

Ihnen herzliche Grüße sendet mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Schwiegertochter, bleibe ich immer Ihr helfender

Horst Schellekamp

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6 Gedanken zu “ALLERLETZTER BRIEF

  1. Hallo, könnte das Wort „frost“ oder „tross“ nicht auch Front heißen?
    Liebe Grüße und nochmals vielen herzlichen Dank für diese beeindruckende Reise, so schrecklich sie auch war.

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  2. Die Wehrmacht war selbst in den Völkermord im Osten verwickelt. Sie hat auf jeden Fall den Weg für die Einsatzgruppen, die professionellen Völkermörder, frei gemacht. Diser Kampf war von Seite der Russen nicht sinnlos. Aus dem Ganzen eine Opfergeschichte zu machen, war in den Fünfzigern übrig und ist völlig überholt.

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  3. Die Wehrmacht war selbst in den Völkermord im Osten verwickelt. Sie hat auf jeden Fall den Weg für die Einsatzgruppen, die professionellen Völkermörder, frei gemacht. Diser Kampf war von Seite der Russen nicht sinnlos. Aus dem Ganzen eine Opfergeschichte zu machen, war in den Fünfzigern üblich und ist völlig überholt.

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    1. Danke für Ihre Eingabe. Sie haben natürlich recht, aber weder handelt es sich hier um eine „Opfergeschichte“, noch um „Verharmlosung“ von Verbrechen. Andererseits ist dies aber auch kein „didaktisches “ Projekt, sondern es ist eine Auseinandersetzung mit einer Erstquelle, in der – aus den Augen eines Zeitzeugens – durchaus Verbrechen angesprochen werden. Uns interessiert hier nicht die Verurteilung sondern die Betrachtung der Sichtweise des Zeitzeugens. Anders als bei Kempowskis „Echolot“ ziehen wir aber nicht eine Vielzahl an Sichtweisen heran, sondern bleiben bei einer einzigen Quelle, die über einen größeren Zeitraum seine Erfahrungen preisgibt und auch verändert. Wenn Sie sich aber speziell für Untersuchungen zum Völkermord im Rahmen des Kriegs interessieren, empfehlen wir Ihnen dringend zumindest Abhandlungen wie jene von Timothy Snyder und anderen zu lesen. Beste Grüße.

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  4. Sehr geehrte Damrn und Herren,
    durch Zufall bin ich während meiner Recherche auf diese Quelle gestoßen. Es jährt sich am 05.12.2022 zum 80. Mal, dass der Bruder meines (angeheirateten) Onkels, August Schwarz, Jahrgang 1917, durch den Schuss eines Scharfschützen auf dem kleinen Flugplatz Karpowka am südwestlichen Rand des damaligen Kessels sein Leben verloren hat.
    Übrigens: ich meine,das strittige Wort heißt weder Tross noch Frost oder Front, sondern
    TROST.
    Weiterhin viel Erfolg und alles Gute.
    Freundliche Grüße aus dem Schwarzwald

    Gefällt 1 Person

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